Dr. Walter Pohl übernahm im Januar 1939 die Praxis von Herrn Doktor Ludwig Brehm. Er wurde zum 01.03.1939 von der KV zugelassen. Da Dr Brehm noch nicht aus dem Praxishaus ausgezogen war , zog er mit Familie zunächst (1938) in das Schwesternhaus, das sogenannte Krankenhaus in der Siegstr ein. Dort war später auch vorübergehend der Kindergarten untergebracht. Nach meinen Unterlagen war das Praxishaus zum 01.04 freigeräumt, sodass der Umzug in das Haus Bahnhofstrasse 10 möglich war.
Das medizinische Hauptinteresse galt der von seinem Vorgänger nicht so sehr beachteten Gynäkologie und der Kinderheilkunde. Aber natürlich wollte er hauptsächlich Hausarzt sein. Es ging ihm um die ganzheitliche Familienmedizin, die Säuglinge wie auch alte Menschen betraf. Er empfand es immer als vorteilhaft sich in der Familienanamnese auszukennen. Diese umfasste natürlich nicht nur Krankheiten sondern auch soziale Probleme, finanzielle Sorgen, Konflikte am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft usw.
Vor allem Diagnosen mussten ohne große technische Hilfsmittel gestellt werden. Es gab keine Röhre, kein Ultraschall, kein MR, fast kein Labor. Das Röntgen stand am Anfang und dennoch stimmten seine Diagnosen fast immer. Er verstand sich nicht nur als Arzt sondern auch als Berater in schwierigen Lebenssituationen.
Seine große medizinische Liebe galt der Gynäkologie und dort besonders der Geburtshilfe. Darin hatte er auch promoviert und war in der Universität in Würzburg entsprechend tätig. Die Geburtshilfe hat die ganze Familie beschäftigt, denn, war ein Ausflug geplant, musste immer noch „eine Geburt gemacht“ werden, sodass die Ausflüge mit der Familie fast immer ausfielen. Bis zu 100 Geburten leitete er im Jahr. Die Frauen berichteten. Wenn sie seinen weißen Kopf sahen waren sie beruhigt, es konnte nichts mehr passieren!! Stand die Hebamme nicht zur Verfügung, wurde schon mal der Ehemann als Helfer und Beleuchter mit der Grubenlampe eingesetzt. Meist wurde es jedoch ganz dunkel, weil der Ehemann umgefallen war.
Die Besuche teils über 90 am Tag wurden bis Eiserfeld mit Fahrrad später mit Motorrad ausgeführt. Mein Vater war während der Kriegszeit einziger Arzt und teilweise bis Eisern tätig. Von 1942-1972 war er auch Werksarzt der Charlottenhütte in Niederschelden.
Dort machte er von 6.30 Uhr bis 8.00 täglich Sprechstunde und Einstellungsuntersuchungen.Während des Krieges versorgte er dort auch bis zu tausend Gefangene aller Nationen. Außerdem war er auch für das Lager der Russen am Bahnhof zuständig (Kriegsgefangene). Die waren meist in extrem schlechten Gesundheit und Ernährungszustand.
In der Praxis warteten seit vor 7 Uhr die Patienten um erste zu sein. Schwerkranke, vor allem Silikose- und Silikotuberkulose – Patienten lagen ihm besonders am Herzen. Gerade diese Bergmanns -Familien waren meist kinderreich (10 Kinder waren keine Seltenheit) und sehr arm. Ihnen galt seine besondere Aufmerksamkeit. Im Todesfall wurden häufig Sektionen(Autopsien) beantragt, um den Zusammmenhang des Todes mit dem Beruf zu dokumentieren, damit der Familie auch noch eine Berufsrente zugesprochen wurde.
Schlimm war ihm, wenn er den Patienten nicht bis zum ersten des Monats „halten“ konnte, da der Witwe sonst 1 Monat Rente fehlte.
Tägliche Besuche zur Strophantinspritze waren erforderlich, da es außer diesen kaum herzstärkende Mittel gab. Penicillin kam gerade auf und erleichterte deutlich die Therapie der Infektionskrankheiten. Es wurden Dekokt hergestellt, Mixturen, Pulver, Infus, Tees Wickel salben angerührt. Der Apotheker Schweisfurt später Waldemar Krieger waren bei der Herstellung der verschiedenen Zubereitungen einschliesslich der Zäpfchen Salben Pillen sehr gefordert. das Problem für den Apotheker begann meist schon mit dem Lesen der in Eile auf ein Rezept geschriebenen Rezeptur. Die Schrift meines Vaters war zum Leidwesen der Apotheker nicht besser als meine.
In der Praxis wurden teilweise mit Hilfe meiner Mutter Aethernarkosen durchgeführt um ausgekugelte Arme wieder zu reponieren oder Ausschabungen auszuführen, Brüche zu richten, die dann auch gleich eingegipst wurden , Abszesse zu spalten oder Ähnliches. Es handelte sich also um eine echte Allgemeinpraxis in der die Patienten eine medizinische Rundumversorgung erhielten. Das Krankenhaus in Kirchen oder Siegen war schlecht zu erreichen, Autos gab es wenige und kaum Telefone. Mir liegt ein Schreiben an den Landrat vor, in dem der Antrag auf ein Notfalltelefon gestellt wird.
Bei meinem Vater war der Beruf des Landarztes eine Tätigkeit fast ohne Pause. Täglich bis in die nacht ca 12 Uhr. Die meisten Haustürschlüssel der Schwerkranken hatte mein Vater in der Tasche oder aber er wusste wo unter der Fussmatte im Blumenkasten oder auf dem Treppenabsatz er lag. Auch die Wochenenden waren den Patienten vorbehalten. Urlaub -immer ohne Familie- diente Kongressen in Deutschland oder Italien. Zu Hause wurden die Patienten durch einen Vertreter versorgt.
Wenn mein Vater nach seiner Besuchstätigkeit nach hause kam, stand meist schon ein wartender Patient vor der Tür, der entweder zu Geburt Unfall, hohes Fieber, Kolik, Asthma, Verletzung und Ähnlichem rief. Wenn mein Vater wirklich Ruhe haben wollte, spielte er in einer der Gasthäuser Schach oder Skat und schlief dann auch dort. Meistens wurde er jedoch auch da aufgefunden und zum Patienten gerufen.
Wir Kinder waren bei den Tischgesprächen voll in die medizinische Tätigkeit integriert und verfolgten mit grossem Interesse die aufregende Tätigkeit. So wurden wir schon früh mit dem Beruf konfrontiert, sodass auch drei von uns Mediziner geworden sind. Ich z.B. habe schon mit 6 Jahren das erste Mal Blut abgenommen.